C. Cordin: Anatolij F. Koni (1844–1927) zwischen Herrscher und Volk

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Titel
Anatolij F. Koni (1844–1927) zwischen Herrscher und Volk. Ein liberaler Jurist und seine autobiografische Praxis in Zarenreich und Sowjetunion


Autor(en)
Cordin, Carla
Reihe
Imperial Subjects. Autobiographik und Biographik in imperialen Kontexten (2)
Erschienen
Wien 2019: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
448 S.
von
Ulrich Schmid

Obwohl der russische Jurist Anatolij Koni (1844–1927) liberale und mithin in einem autokratischen System suspekte Positionen vertrat, gelang ihm eine beeindruckende Karriere im staatlichen Gerichtswesen. Für seine Verdienste erhielt er zahlreiche Orden. Neben seiner beruflichen Tätigkeit engagierte er sich im Kulturbetrieb und pflegte persönlichen Kontakt zu den literarischen Grössen seiner Zeit: Tolstoj, Turgenev, Dostoevskij, Gončarov, Nekrasov und Ostrovskij. Koni hat mit seinen umfangreichen Memoiren eine wertvolle Quelle für kulturhistorische Forschungen hinterlassen. Allerdings hat sich die Osteuropawissenschaft noch kaum für Koni interessiert. Erst in jüngster Vergangenheit hat sein Werk wieder Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Konis Dissertation über das Recht auf Verteidigung des Angeklagten wurde 1996 neu aufgelegt, seine Rede zu den moralischen Grundlagen des Strafrechts erschien 2000, sein Stadtporträt von St. Petersburg fand 2003 einen Verlag und 2010 wurden seine Erinnerungen an die Schriftsteller des russischen Realismus in einem Sammelband wieder veröffentlicht. Überdies wurde sein Nachlass als einer der ersten im Staatlichen Archiv der Russischen Föderation (GARF) digitalisiert. Koni ist zweifellos einer der wichtigsten intellektuellen Akteure im späten Zarenreich. Sein Dilemma ist repräsentativ für viele: Er bemühte sich als loyaler Untertan des Monarchen um Reformen und Modernisierungen des politischen Systems. Es ist deshalb unbedingt zu begrüssen, dass die Basler Osteuropahistorikerin Carla Cordin Anatolij Koni eine umfangreiche und sorgfältig recherchierte Monographie widmet. Cordin wählt einen interessanten theoretischen Ansatz. Sie bezieht sich auf Alain Badiou und seine «Ethik der Wahrheiten». In der Biographie eines Menschen gibt es laut Badiou manchmal ein einschneidendes «Ereignis», das den Betroffenen dazu zwingen könne, alles Nachfolgende in Relation auf dieses «Ereignis» zu denken. Für Koni trifft diese Konstellation mit Bestimmtheit zu: Er leitete als Gerichtsvorsitzender die Verhandlung gegen die Attentäterin Vera Zasulič , die 1878 auf den allseits verhassten Petersburger Stadthauptmann geschossen hatte und in einem Aufsehen erregenden Prozess trotz erwiesener Schuld von den Geschworenen freigesprochen wurde. Koni wurde für dieses politisch unerwünschte Ergebnis persönlich verantwortlich gemacht, zum Rücktritt aufgefordert und schliesslich auf einen anderen Posten versetzt. Auch später blieb der Fall Zasulič an Konis Reputation haften: Er galt in konservativen Milieus als Inbegriff des «Liberalen», dessen Toleranz sogar Terroranschläge rechtfertigte. Cordin bezieht die drei Hauptteile ihrer Arbeit auf Konis Begegnung mit Vera Zasulič : Sie beschreibt erstens die Stigmatisierung Konis im beruflichen Milieu der Juristen, sie analysiert zweitens die poli tischen Diskurse um Gnadengesuche, Schuldfähigkeit und Strafbemessung und sie rekonstruiert drittens den Gegensatz von «Intelligencja» und «Volk» in der Gesellschaft des späten Zarenreichs.

Die wichtigste Stärke der Dissertation Cordins liegt in der umfassenden Sichtung und Analyse von Konis umfangreichen Schriften. Es gelingt der Autorin, Konis Position im Spannungsfeld von konservativer Herrschaftsideologie und progressiver Gesellschaftsdiskussion präzise herauszuarbeiten. Diese Ambivalenz beschreibt sie anhand komplexer biographischer Situationen wie etwa Konis Entscheidung, nach der Oktoberrevolution in Russland zu verbleiben. Dieses Verhalten trug ihm gehässige Kommentare der Dichterin Zinaida Hippius ein, die ihm vorwarf, für eine «erhöhte Ration Graupen» zu den Bolschewiki übergelaufen zu sein. Hippius wusste allerdings nicht, dass auch die neue Macht Koni als unsicheren Kantonisten einstufte. 1919 durchsuchte die Tscheka Konis Wohnung und beschlagnahmte Gegenstände sowie schriftliche Dokumente. Koni hatte noch gehofft, der neuen Regierung demokratische und föderative Impulse zu geben. Er sah sich allerdings alsbald auf die Rolle eines Literaturkritikers beschränkt, der sich nicht zu politischen Themen äussern durfte.

Eine gewisse Schwäche der Arbeit liegt in der zu vorsichtigen Systematisierung von Konis «autobiographischer Praxis». Cordin verweist zwar auf einzelne Praktiken wie etwa das Sammeln von 1000 Visitenkarten, das Verfassen von biographischen Skizzen über Juristen, Politiker und Literaten. Sie beschreibt auch ein spätes autobiographisches Projekt aus dem Jahr 1923, das Koni unter dem Titel «Biographische Notizen» in seinem Archiv ablegte. Interessant wäre hier eine Analyse der literarischen Muster gewesen, die Koni auf sein eigenes Leben projiziert. Er folgt Tolstojs früher autofiktionaler Trilogie Kindheit, Knabenjahre, Jugend und definiert für seinen eigenen Lebensweg die entsprechenden Etappen 1844–1851, 1852–1858 und 1858/1861. Ein weiteres Dokument betrifft seine «erste Liebe», die er in Anlehnung an Turgenevs gleichnamige Novelle in den Kategorien von Begeisterung und Entsagung präsentiert. Cordins Arbeit gebührt aber das Verdienst, die öffentliche Existenz eines wichtigen Intellektuellen im späten Zarenreich und der frühen Sowjetherrschaft kenntnisreich und auf der Grundlage bisher unerschlossenen Materials dargestellt zu haben.

Zitierweise:
Schmid, Ulrich: Rezension zu: Cordin, Carla: Anatolij F. Koni (1844–1927) zwischen Herrscher und Volk. Ein liberaler Jurist und seine autobiografische Praxis in Zarenreich und Sowjetunion, Wien 2019. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 70 (2), 2020, S. 317-318. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00063>.

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